Als die Schüler-Antifa-Gruppe an diesem Oktobermittwoch zusammentrifft, ist die Stimmung gemischt. Die Schlägerei lastet auf ihnen. Mehmet hat eine Rippe gebrochen und muss sich schonen. Petra ist am Boden zerstört.
„Ich halte das nicht aus. Die sind doch jetzt auch noch hinter uns her.“
„Wer?“, fragen alle im Chor.
„Keine Ahnung, aber ich kann jetzt nicht mehr ruhig durch Wiesbaden laufen.“
„Aber du warst doch gar nicht dabei. Dich kennen die doch überhaupt nicht.“
„Ja, aber ich kenne doch euch!“
„Jetzt drehst du aber ein bisschen ab,“ sagt Vera. „Das sind doch keine Hellseher.“
Petra sagt nichts.
„Außerdem bezweifle ich, dass die rumrennen und erzählen, dass sie von zwei Frauen und ein paar Jugendlichen auf die Fresse gekriegt haben. Klingt ja auch echt wie eine Heldengeschichte zum Angeben.“
„Und die Plakate haben wir fast alle geklebt. Dass die beiden Typen auftauchen, war Zufall. Das konnten wir nicht vorhersehen.“
„Ich glaube, wir sollten nun zu unserer echt harten Sache kommen“, wirft Stefan ein. „Sind denn nach dieser Nummer alle noch mit im Boot? Ich meine, traut sich das jeder hier zu, was wir planen?“
Mehmet meldet sich: „Mir ist komisch zumute. Immerhin stand ich ja wie gelähmt herum, als es darauf ankam.“
„Und weiter?“, will Marc wissen.
„Ich glaube, ich kann mich nicht wirklich schlagen“, räumt Mehmet ein.
„Und weiter?“, fragt Marc erneut.
Mehmet zuckt mit den Schultern.
„Du kannst doch gerade sowieso nichts machen“, sagt Isabella „mit deiner kaputten Rippe.“
„Tut es denn noch weh?“, will Elena wissen.
„Allerdings. Jeder Atemzug. Aber ich will gar nicht wissen was passiert wäre, wenn der mich im Gesicht getroffen hätte.“
Erkan meldet sich zu Wort: „Bei der Aktion müssen wir hier ja eh nichts machen. Also kann Mehmet dabei sein.“
„Doch“, sagt Vera. „Wir müssen hier schon was machen. Wir müssen normal sein und so tun, als ob nichts wäre, während sich draußen eine Gefahr für uns zusammenrottet. Vermutlich wird das echt anstrengend.“
Alle schmunzeln gezwungen.
Marc ergänzt: „Das Schwierigste wird sein, nichts zu wissen, falls uns die Polizei befragen sollte. Und vor allem auch sonst niemandem davon zu erzählen. Weder vorher noch nachher. Bekommen das wirklich alle hin?“
Allgemeines Nicken.
„Was sollen wir denn auch sagen?“, sagt Elena. „Wir wissen doch auch nichts. Nur dass die Nazis uns plattmachen wollen und andere das verhindern wollen. Wir wissen ja nicht einmal, wer das ist.“
„Klingt doch gut“, flüstert Max.
„Nein, das klingt nicht gut“, sagt Stefan bestimmt. „Da ist rauszuhören, dass du irgendetwas weißt.“
„Wieso?“
„Wer von dem Angriff weiß, weiß auch was von der Abwehr. Ist doch klar“, antwortet Stefan. „Der weiß von Marcs Rolle. Am besten ist immer, gar nichts zu sagen. Einfach nichts. Wenn du anfängst zu reden, die Bullen also ahnen, dass du weiter reden könntest, dann fragen die auch weiter.“
„Ja“, mischt sich Vera ein. „Wir wissen nichts und sagen nichts. Punkt aus. Wenn wir nichts sagen, hören sie am ehesten auf zu fragen. Sonst setzen sie dich nur unter weiter Druck. Das zumindest hat mir Mîrhat gesagt.“
„Das finde ich gut. Ist sich jemand unsicher? Oder hat was dazu auf dem Herzen?“, fragt Marlene. „Das sollte dann jetzt gesagt werden, finde ich!“
Celeste, das dunkelhäutige Mädchen, sieht Marlene an. „Weißt du, ich bin froh, dass ich nicht genau weiß, was geplant ist. Ich will es gar nicht wissen. Ich finde nur wichtig, dass ich nicht raus muss, um mitzumachen. Sowas wie in der Bleichstraße hätte mich fertig gemacht. Ich fühl mich zwar sicher hier drin mit euch, aber ein bisschen Schiss habe ich schon.“
Dann stockt sie und blickt zu Boden. „Aber im tiefsten Herzen bin vor allem dankbar. Ihr und die Unbekannten da draußen seid die Ersten, die gegen die scheiß Nazis was unternehmen. Bisher dachte ich, dass es niemanden in diesem Land gibt, der sich auf unsere Seite stellt, der was gegen diese Schweine hat.“
Sie blickt auf, schaut in die Runde. Tränen laufen ihr über die Wangen. Dann bricht es aus ihr heraus. „Ich kann meinen Vater nicht vergessen. Das macht mich wahnsinnig. Und dass die Täter immer noch frei herumlaufen, zerfrisst mich.“
Celeste schlägt sich die Hände vor ihr Gesicht. Heulkrämpfe schütteln sie. Vera setzt sich neben sie und streichelt ihren Rücken. Keiner sagt etwas.
„Es gab nur eine Zeugin. Die Täter sind bis heute auf freiem Fuß.“
Im Raum ist es totenstill. Alle wissen, dass Nazis Menschen totschlagen. Aber das passiert normalerweise weit weg. Wie in einer anderen Welt. Celeste aber sitzt vor ihnen. Es geschah mitten in Wiesbaden.
„Keine Angst“, flüstert Vera. „Wir sind ja da! Auf uns kannst du zählen.“
Isabella tritt ebenfalls hinzu, Tränen in den Augen. Sie umarmt Celeste: „Wir lassen dich nicht im Stich. Ich weiß, wie wichtig dieses Gefühl ist.“
Dann weinen beide hemmungslos.